veröffentlicht am 23.05.2024

Eine Frage der Gene?

Eine Frage der Gene?

In einigen Familien tauchen auffallend viele Musiktalente auf – denken wir an die Familie Mozart oder die Bach-Dynastie. Ist uns die Gabe zu außergewöhnlichen musikalischen Leistungen in die Wiege gelegt? Dieser spannenden Frage ist der deutsche Wissenschaftsjournalist Frank Luerweg auf der Spur.

Studien zeigen, dass die Gene zu einem erheblichen Teil bestimmen, wie musikalisch jemand ist. Diese prägen sich aber nur aus, wenn sie auf das passende Umfeld treffen. Zudem spielt Training eine wichtige Rolle. Und natürlich sind Freude und Erfolgserlebnisse der beste Nährboden für die musikalische Entwicklung. Wissenschaftsjournalist Frank Luerweg liefert in seinem Artikel „Musik im Blut“ in der Mai-Ausgabe der Zeitschrift „Spektrum der Wissenschaft“  interessante Fakten rund um dieses Thema.

Der Flöte spielende Neandertaler
Musik spielt in allen bekannten menschlichen Kulturen eine zentrale Rolle. Das war wahrscheinlich schon der Fall, als die ersten Gruppen von Homo sapiens die Erde besiedelten. So wurden in der Nähe von Ulm Flöten aus prähistorischer Zeit gefunden, eine davon ist mehr als 40.000 Jahre alt. Ein Exemplar aus Slowenien könnte sogar bereits vor 60.000 Jahren von Neandertalern gespielt worden sein. Vermutlich haben sich Menschen seit jeher an Musik erfreut, zu ihrem Rhythmus getanzt und mit ihr Stimmungen und Gefühle ausgedrückt. Fachleute wie Henkjan Honing von der Universität Amsterdam halten Musikalität daher für eine grundlegende menschliche Eigenschaft. Sie gehört zu unserem Wesen, wie die Fähigkeit zu sprechen oder auf zwei Beinen zu gehen.

Dieser Ansicht ist auch die Musikpädagogin Anna Wolf. „Fast alle Menschen sind musikalisch“, meint die Professorin der Hochschule für Musik in Weimar. „Und zwar in dem Sinn, dass sie eine Lieblingsband oder einen Lieblingssong haben, dass Musik in ihnen Emotionen wachruft oder den Wunsch, sich zu ihr zu bewegen. Gerade in der westlichen Kultur wird jedoch Musikalität oft mit Hochbegabung gleichgesetzt, mit einer außergewöhnlichen Fähigkeit, die nur wenige Genies teilen.”

Suche nach dem Musikalitäts-Gen
Dennoch fällt es manchen Menschen offensichtlich leichter als anderen, im Takt zu klatschen oder beim Singen den richtigen Ton zu treffen. Die Verhaltensgenetikerin Miriam Mosing vom Karolinska-Institut in Schweden ist Expertin für Zwillingsstudien. Mit der größten Datenbank ihrer Art weltweit besitzt Schweden ein einzigartiges Forschungsinstrument. Seit den späten 1950er Jahren werden dort sämtliche Zwillinge, die geboren wurden, erfasst. Eineiige Zwillinge gleichen sich in vielen Punkten stark, auch in puncto Musikalität. Ihre musikalischen Fähigkeiten sind jedoch nicht exakt gleich. Das bedeutet, dass neben den Erbanlagen auch Umwelteinflüsse eine Rolle spielen. Das eine „Musikalitäts-Gen“ gibt es nicht. „Es ist wie bei anderen komplexen Verhaltensweisen oder Fähigkeiten auch“, betont Mosing. „Sie hängen von tausenden verschiedenen Erbanlagen ab, von denen jede für sich nur einen winzigen Einfluss hat.“

Was ist Musikalität genau?
Damit berührt Miriam Mosing einen Punkt, der die Forschung schon seit Jahrzehnten beschäftigt: Was ist Musikalität überhaupt genau? Die Fähigkeit, Töne zu unterscheiden? Melodien nachzusummen? Komplexe Rhythmen nachzuklatschen? „Es gibt wie bei der Intelligenz eine Art g-Faktor der generellen Musikalität“, sagt Daniel Müllensiefen vom Goldsmiths College der University of London. „Dazu gehört zum Beispiel, Emotionen in Musik wahrnehmen oder grundlegende Rhythmen verarbeiten zu können.“ Müllensiefen ist Mitglied eines internationalen Forschungsverbundes, der zu definieren versucht, was Musikalität ausmacht und Messmethoden dafür entwickelt – diese „messen aber stets nur bestimmte musikalische Fähigkeiten, nicht Musikalität“, gibt er zu bedenken. Der Begriff „Musikalität“ bezeichnet für ihn ein Potenzial, nicht den Status quo. Jeder, der Klavierstunden nimmt, wird sich mit der Zeit verbessern, meint er. Wer musikalisch sei, schaffe das jedoch schneller als andere.

Nährboden für Begabungen
Heute weiß man, dass viele Gene ihre Wirkung nur dann entfalten können, wenn sie auf die passende Umwelt treffen. „Sie benötigen einen entsprechenden Input, sonst sind sie nutzlos“, betont Daniel Müllensiefen und bringt einen schönen Vergleich: Wenn man Sonnenblumen-Keimlinge in nährstoffreiche Erde setzt und ausreichend gießt, wachsen sie zu meterhohen prächtigen Pflanzen heran. Vernachlässigt man dagegen einige von ihnen, werden diese verkümmern. Sie können ihr Potenzial nicht ausschöpfen. In der Wissenschaft spricht man von Gen-Umwelt-Interaktion. Musikalische Eltern hören im Schnitt mehr Musik und spielen häufiger ein Instrument als unmusikalische. Sie geben daher nicht nur ihre Erbanlagen an ihren Nachwuchs weiter, sondern oft auch ein dazu passendes Umfeld, in dem sich diese Gene besonders gut ausprägen können.

Menschen mit einer Begabung suchen außerdem aktiv nach Möglichkeiten, ihr Talent auszuleben. Sie nehmen Gesangsunterricht, lernen ein Instrument, besuchen Konzerte oder geben Geld für Musik Streamingdienste oder CDs aus. Unsere Umwelt bestimmt, wie stark sich unsere Erbanlagen ausprägen. Und unsere Erbanlagen lassen uns eine Umwelt wählen, die zu ihnen passt. Neben den Erbanlagen ist Übung ein Grundpfeiler musikalischen Erfolgs. „Selbst Mozart hat sich nicht ans Klavier gesetzt und konnte sofort spielen“, sagt Daniel Müllensiefen. „Dafür waren sicher tausende Übungsstunden nötig.“ Spitzenleistungen haben ihren Preis. Der US-Psychologe Anders Ericsson will sogar herausgefunden haben, wie viel Zeit Spitzenmusiker:innen bis zu ihrem 20. Lebensjahr mit Üben verbringen: 10.000 Stunden Arbeit. Diese Faustregel gelte genauso beim Schach oder beim Sport.

Unsere Stärken stärken
Hinzu kommt ein weiterer Punkt: Wer ist überhaupt bereit, 10.000 Stunden in eine Fähigkeit zu investieren? Wahrscheinlich vor allem diejenigen, die merken, dass sie auf diesem Gebiet besser sind als andere oder dass sie schneller Fortschritte machen. Wir suchen uns ein Hobby, das uns Freude macht und unseren Stärken entgegenkommt, bei dem wir Erfolgserlebnisse erfahren. Eltern sollten ihren Kindern daher die Chance geben, einen Bereich zu entdecken, in dem sie Talent haben und für den sie sich begeistern. Und sie sollten sie unterstützen und fördern, wenn sie dieses Potenzial weiterentwickeln möchten. Denn dann ergänzen sich Gene und Umwelt auch außerhalb der Welt der Musik zu einem harmonischen Zweiklang.

Literaturnachweis:
Spektrum der Wissenschaft, Nr. 5/2024, Frank Luerweg, Musik im Blut

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